Stress hat heute anscheinend jeder, von busy bis Burnout ist auf der individuellen Belastungsskala alles dabei. Man rennt durch die Welt und denkt an den nächsten Termin, den Hauskredit oder muss gerade vier Kinder bändigen. Da kann man schonmal mental mit den Fingern über die Wandtafel kratzen.
Wenig ist so gut erforscht wie Stress
Dieser Befund ist nicht neu. Im Gegenteil: Stress und seine Behandlung ist in aller Munde. Es gibt Therapien, Coachings, Ratgeber und Selbsthilfebücher. Es ist gesellschaftlich akzeptiert, zu sagen: „Ich habe so einen Stress!“ (Interessant: Niemand sagt „ich fühle Stress!“ Man hat Stress wie ein Konsumgut, wie eine Jeans – nur dass die Jeans, einmal angezogen, anscheinend nie wieder runtergeht…)
Es gibt vielerlei Betrachtungen zum Thema Stress: „Guter“ vs. „schlechter“ Stress, die Bedetung von Achtsamkeit und Entspannungstechniken, objektive Belastungen wie Großraumbüros, schlechte Führung ode die Informationsflut. Das ist alles gut erforscht; die entsprechenden Gegenmaßnahmen werden propagiert, trainiert, gecoacht. Wieso gelingt es vielen Menschen dennoch nicht, Stress zu reduzieren?
Unser Unterbewusstsein hat keinen Bock auf weniger Stress
Es ist wie beim Klimawandel oder gesunder Ernährung: Wir haben kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsproblem. Irgendetwas blockiert uns, hält uns davon ab, dem Stress die Stirn zu bieten. Wir haben einfach keinen Bock auf weniger Stress. Klingt paradox, oder? Dabei reden wir doch von nichts anderem. „Weniger Stress haben“ ist zur Klischeephrase verkommen, zum guten Ton. Wer keinen Stress hat, ist ein Faulpelz. Und damit fängt unser eigentliches Problem an.
Ich will im folgenden einige Impulse anreißen, die vielleicht provokant wirken, aber die ich in meiner realen Praxis des öfteren sehe. Es geht um drei Faktoren, die in meinem (beruflichen) Alltag eine große Rolle spielen: Das Ich (Fähigkeiten und Motivation), das Du (Kommunikation und soziales Dasein) und das Wir (Transzendenz im Sinne von „etwas Sinnvolles tun“). In jedem Bereich gibt es Blockierer, Programmierungen, die Maßnahmne zur Stressprävention abschießen und verhindern.
„Quäl dich, du Sau!“
Ein legendärer Spruch, ausgestoßen von Udo Bölts in Richtung Jan Ulrich bei der Tour de France 1997. Er fasst genialisch alle drei Ebenen und ihre Hauptblockierer zusammen:
- ICH: Ulrich würde vielleicht gern stehenbleiben, verschnaufen, das beschissene Rad in den Dreck schmeißen, endlich Ruhe haben. Aber es ist ihm nicht erlaubt. Egozentriker zu sein, ist verpönt. Der gute Mitarbeiter denkt an sich selbst zuletzt. Natürlich ist es in der Stressprävention richtig, an das Einhalten der eigenen Grenzen zu appellieren. Doch das Unterbewusstsein killt diesen Appell, weil es nicht als egoistisch gelten will. Weil man ja „für das Team“ und die Kunden da sein „will“. Das Label „faul“, „egoistisch“ etc. ist angstbesetzt, sozial geächtet und damit existenzgefährdend.
- DU: Jeder Mitarbeiter ist heute Teil eines Teams, muss mit anderen kooperieren, nicht nur im Sport. Aber dort fällt der Teamgedanke eben besonders auf. Ulrich soll sich nicht nur für sich quälen, sondern für das Team. Er sitzt nicht allein auf dem Rad, sondern hat seine Leute quasi mit auf der Schulter sitzen. So rutscht man leicht in eine alles überstrahlende Aufopferung ab. Soziales Strahlen durch Aufgabe des Ich. Die Gruppenbelohnung, das Dazugehören, die Anerkennung in Wort und Geld ist die andere Seite der Egozentrik-Medaille. Weniger Ich, mehr Du. Grundsätzlich ehrenvoll, aber unter Umständen in einem gesundheitsgefährdenden Maß.
- WIR: Jeder Mensch strebt – bewusst oder unbewusst – nach einem Sinn in seinem Leben. Und da Arbeit einen Großteil unseres Lebens ausmacht, fällt der Kegel der Sinnsucher-Taschenlampe eben oft und intensiv auf die eigene Arbeit. Man möchte „Teil von etwas sein“ bzw. „etwas Sinnvolles tun“. Moderne Unternehmen nutzen dies, indem sie eine Sinnmaschine konstruieren, eine „Mission“, eine „Unternehmensethik“, mit der sich der Mitarbeiter identifizieren kann und soll. Eine „sinnvolle“ Tätigkeit ist eine mächtige Strömung, ein kraftvolles Motiv, das schonmal den mentalen Selbsterhaltungstrieb außer Kraft setzen kann.
Mehr Egoismus wagen
Tatsächlich: Mehr Egoismus wagen? Ein solcher Appell wirkt ein wenig wie das Einlegen des Rückwärtsganges bei 160 Km/h auf der Autobahn. Das ist auch so gewollt, weil er das Unbewusste provozieren soll. Sich für andere einsetzen – gut. Sinnvolle Arbeit tun – auch gut. Doch wo die eigene Gesundheit gefährdet ist, hört der im Outdoortraining gelernte Spaß auf. Dann muss man sich entscheiden: gesunder Egoismus oder aufreibende Barmherzigkeit?
Leben ist dynamisch. Auch wenn Sie teilweise sich selbst in den Mittelpunkt Ihres Lebens stellen, machen Sie sich keine Sorgen: Das Du und das Wir werden bald wieder das Ruder übernehmen. So sind wir kulturell geprägt. Darum besteht die eigentliche Anstrengung in der Stressprävention nicht in einer Umsetzung von Techniken oder in der Beschaffung von Wissen über Stressprävention, sondern im Mut, mehr Egoisums zu wagen. Gegen den sozialen Mainstream und gegen vereinnahmende Unternehmenskulturen. Wenn Sie wieder belastbar sind, seien Sie nächstenliebend! Opfern Sie sich auf! Aber bitte in Maßen.
Photo © Bastografie | photocase.de