Wie schafft man Vertrauen in Hierarchien? Diese Frage stelle ich mir in letzter Zeit immer intensiver. Gerade wenn man es mit Organisationen zu tun hat, in denen das Vertrauen über Jahre hinweg mehr oder weniger flächendeckend zerstört worden ist und man im Grunde einen psychotherapeutischen Ansatz bräuchte, um die Leute wieder an einen Tisch zu bringen.
Manchmal muss man vielleicht das Undenkbare denken und sich fragen: Wäre es nicht besser, das Unternehmen zu schließen? Das mag auf den ersten Blick, wie gesagt, undenkbar erscheinen. Immerhin verlieren dann jede Menge Leute ihre Jobs, Existenzen stehen auf dem Spiel. Andererseits: Gibt es diese „Insolvenz in Zeitlupe“ nicht bereits in vielen Firmen, wo die Besten abwandern und der Rest resigniert vor sich hin dümpelt? Und was ist mit den Krankheitskosten aufgrund von Depression, Burnout und so weiter? Ganz abgesehen von den vielen Fehltagen, die in solchen Unternehmen normal sind.
Was sind Anzeichen dafür, dass ein Unternehmen in einer Phase der „Insolvenz auf Raten“ steckt?
- Es wird viel übereinander, aber fast nichts miteinander gesprochen. Es gibt eventuell verbündete und verfeindete Gruppen, extreme Heimlichtuerei und Denunziation. Es herrscht eine Kultur der Angst und des Misstrauens. Externe Berater werden freundlich aufgenommen, bekommen aber eine Theateraufführung nach der anderen zu sehen: in Meetings mit den oberen Führungskräften oder „lösungsorientierten“ Workshops beispielsweise. Im besten Fall erhält der Berater in Vier-Augen-Gesprächen einen vertraulichen Einblick in die „wahren“ Verhältnisse des Unternehmens – wird dabei aber in das System der Heimlichtuerei und Denunziation hineingezogen!
- Zur allgemeinen Verunsicherung trägt eine Informationspolitik á la „Vogel Strauss“ bei. Führungskräfte bekommen keine Informationen mehr über relevante Zahlen, Chancen, mögliche Gefahren in der Zukunft oder die Geschäftsentwicklung insgesamt. Möglicherweise wird Kommunikation ausschließlich zur Erpressung und zur Schuldzuweisung benutzt. Die Folge sind selbstverständlich Demotivation und ein Vermeiden des Prangers. Jede Form von Solidarität und Loyalität zerbricht so mit der Zeit.
- Manchmal verlottert auch die physische Infrastruktur sichtbar. Als ob sich die mentale Destruktion in der physischen Welt abbilden wollte, bemerkt man in betroffenen Unternehmen unter Umständen Verschmutzung, Dreck, Unordnung. Das fängt bei Kleinigkeiten wie nicht aufgefüllten Seifenspendern und verdreckten Klos an und hört bei schmutzigen Werkzeugen und Produktionshallen noch nicht auf. Es ist, als ob man seine physische Arbeitsumgebung bereits aufgegeben hätte, einem aber der Mut fehlt, sich auch noch der eigentlichen, inneren Selbstaufgabe und Resignation zu stellen.
- Ist das Unternehmen groß genug, bekommt es in der Region einen gewissen Ruf. Gravierende ökonomische Schwierigkeiten und eine desaströse Kultur lassen sich auf Dauer eben nicht verbergen. Wie Infizierte auf einer Isolierstation werden solche Organisationen von Leistungsträgern oder von Menschen, die eine solche Negativ-Kultur wittern, möglichst gemieden. Am Ende kommt das Unternehmen nur noch an Leute heran, die keine Wahl haben (Stichwort Leiharbeit) oder die sich in einer Kultur des Misstrauens und des Gerüchts wohlfühlen. Was genau so schlimm ist wie es klingt.
Kann man als externer Berater ein solch kaputtes System überhaupt beeinflussen? Soll man es? Oder sich lieber ausklinken und links liegenlassen? Ich weiß es nicht. Persönlich finde ich es für die Beschäftigten in solchen Organisationen wahnsinnig schade. Andererrseits sind es ja Erwachsene, die für ihr Leben und ihren Job selbst verantwortlich sind. Oder gilt hier der Spruch des Archimedes: „Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln?“ Vielleicht helfen ja die folgenden Punkte:
- Ehrlichkeit: Der Berater darf nicht um den heißen Brei herumreden. Das Unternehmen verdient Ehrlichkeit, gerade als Gegenimpuls zu seiner üblichen Kultur. Nur so wird ein nützliches Feedback von außen überhaupt möglich.
- Neutralität: Der Berater darf sich nicht in eine emotionale Abhängigkeit von irgendwelchen Personen oder Gruppen begeben. Dieses jedoch wird das System automatisch versuchen – einfach, weil es ist, wie es ist.
- Unabhängigkeit: Der Berater muss bereit sein, zu jedem Zeitpunkt sein Mandat niederzulegen. Verpflichtet ist der Berater nur seiner Professionalität und seinem Gewissen.
- Langer Atem: Gerade bei Organisationen mit einer tiefen kulturellen Störung darf man nicht mehr von „Change“ sprechen, sondern von „Heilung“. Diese braucht Zeit, und ein Berater muss dem Unternehmen und sich diese Zeit geben.
- Nächstenliebe: Der Berater braucht mindestens ein positives Menschenbild, wenn nicht sogar eine philosophische Grundhaltung der Nächstenliebe, wie sie zum Beispiel Viktor Frankl oder Martin Seligman propagieren.